Multipolare Weltordnung – eine Voraussetzung für die Souveränität kleiner Staaten
Von Peter Berger
Beitrag an der Konferenz «Not to forget!» des Belgrad-Forums vom 21.−24.3.2024
Ich möchte hier gerne ein paar Worte sagen zur Situation in meinem Land, der Schweiz, wo eine gewissenlose proatlantische Elite gerade dabei ist, die Neutralität der Schweiz zu demontieren. Dies scheint mir eine Angelegenheit zu sein, die nicht mein Land allein betrifft. Es ist eine in einem gewissen Sinne grundsätzliche Frage für die gesamte internationale Gemeinschaft.
Es ist mir eine Ehre, dies hier in Serbien tun zu dürfen, in einem Land, das nicht weniger unter dem Druck des Nato-Imperialismus steht als die Schweiz. Der Unterschied besteht jedoch darin, dass Serbien eine Regierung hat, die diesem Druck Widerstand leistet und die Interessen und die Souveränität ihres Landes verteidigt. Dazu beglückwünsche ich das serbische Volk. Gleichzeitig schäme ich mich dafür, dass mein Land, die Schweiz, die Souveränität Serbiens nicht respektiert und mit der Anerkennung des EU-Protektorats auf dem serbischen Staatsgebiet sowie der Beteiligung an KFOR die territoriale Integrität dieses Landes missachtet. Das ist keine Neutralität! Und das ist unser Problem.
Die Neutralität der Schweiz zeigt im Lauf ihrer Geschichte ein wechselhaftes Gesicht. Oft opportunistisch geprägt, zumeist aber auch isolationistisch. Es war die Erstarkung der Bewegung der Blockfreien, welche der Schweiz diplomatischen Spielraum ermöglicht und ein gewisses Maß an Souveränität zwischen den Blöcken verschafft hatte. Der Zwang, sich in der Folge der Ölkrise neuen geopolitischen Bedingungen anzupassen, führte zu einer offeneren Neutralitätspolitik. Die schweizerische Aussenpolitik zeichnete sich in den 70er- und 80er-Jahren des letzten Jahrhunderts denn auch durch ein größeres Maß an Offenheit aus. Das drückte sich unter anderem in einer aktiven Mitarbeit in der KSZE sowie in einer engeren Zusammenarbeit und Abstimmung mit den anderen neutralen Staaten Europas wie Schweden, Finnland, Österreich und Jugoslawien aus.
Mit dem Ende des Warschauer Paktes begann es sich zusehends wieder zu ändern. Mit der zunehmenden Machtentfaltung des imperialistischen Hegemons wurde das, was sich in den Jahren zuvor an souveräner schweizerischer Aussenpolitik entwickeln konnte, fortschreitend wieder zunichte gemacht. Ein Prozess der Zersetzung der schweizerischen Neutralität, verbunden mit schleichender Integration der Schweizer Armee in die Nato begann: zuerst Partnership for peace, dann bald auch Armee-Einsätze zur Unterstützung imperialistischer Interventionen in Drittländern, wie eben die Beteiligung an KFOR zum Schaden souveräner Staaten wie Serbien. Die militärische Zusammenarbeit mit der Nato wird immer enger. Die Führungsreglemente wurden mit jenen der Nato harmonisiert, kombinierte Stabsübungen gehören dazu, und in wichtigen Fragen der Bewaffnung verliert die Schweiz ihre Selbstbestimmung.
Die Regierung scheut dabei nicht davor zurück, trickreich Volksentscheide zu umgehen oder zu vermeiden. Das war auch der Fall beim Kauf von 35 US-amerikanischen Kampfflugzeugen des Typs F-35. Dabei ist das Kaufgeschäft auch deshalb umstritten, weil große Fragezeichen gesetzt werden zur Eignung der Flugzeuge für die Luftraumüberwachung eines Kleinstaates. Aber das Konzept, das insgeheim hinter der Beschaffung steckt, ist ein anderes: Die Flugzeuge sollen für Verbundaufgaben mit der Nato zur Verfügung stehen. Genau deshalb mussten es unbedingt diese Flugzeuge sein. Und merke: US-Stellen können jederzeit über die Elektronik in die Funktion der Flugzeuge eingreifen!
Die immer engere Zusammenarbeit mit der Nato hat dazu geführt, dass die persönlichen Beziehungen der Armeekader zur Nato stetig intimer geworden sind. Das wird von der Nato inzwischen gezielt für die Einflussnahme auf Personalentscheidungen der Schweizer Behörden ausgenützt. So geschehen vor kurzem, als eine neue Stelle für einen Staatssekretär für Sicherheitspolitik geschaffen wurde. Die Regierung hatte dazu zunächst einen qualifizierten und erfahrenen Diplomaten nominiert. Auf Druck der Nato wurde diese Nomination wieder rückgängig gemacht und an seiner Stelle ein solide atlantisch ausgerichteter Armeekader ins Amt befördert.
Das Beispiel zeigt, wie sich die Einflussnahme der Nato längst über den militärischen Bereich hinaus erstreckt: Die Militärallianz mischt sich in sensible Bereiche der schweizerischen Politik ein. Ähnlich wie die Unterordnung unter die Nato untergräbt die von den politischen Eliten angestrebte EU-Integration die Souveränität und Neutralität des Landes. Es ist heute festzustellen, dass die Regierung sich als unfähig erweist, eine autonome und unabhängige Politik für das Land zu entwickeln. Das bisher krasseste Beispiel ist das Nachziehen mit Sanktionen gegen die Russländische Föderation und die Republik Weißrussland, die im Umfang noch jene der EU übertreffen. Die Schweiz hat sich damit zum eigenen Schaden dem US- und EU-Diktat unterworfen. Und vor allem: sie hat damit endgültig die Äquidistanz zu den Konfliktparteien verloren, die für eine neutrale Vermittlungsaktivität notwendig wäre. Heute wartet in dieser Hinsicht niemand mehr auf die Schweiz. Da sind längst andere Staaten, die ihre Glaubwürdigkeit nicht verspielt haben, in die Lücke gesprungen.
Nun, was ist zu tun, damit das Land nicht weiter zum Vasall der USA und der EU verkommt? Wie kann die Schweiz wieder mehr Souveränität zurückgewinnen? Was ist nötig, dass die Schweiz wieder zu einer integralen Neutralität zurückfindet, damit sie von neuem eine konstruktive Rolle in der Völkergemeinschaft spielen kann?
Die Verteidigung der Neutralität ist aktuell eine zentrale Aufgabe. Sie wird nur Erfolg haben, wenn es gelingt, in dieser Frage eine taktische Einheitsfront zu bilden zwischen allen Befürwortern der Neutralität, ob sie ihre Haltung nun antiimperialistisch und internationalistisch oder eher isolationistisch begründen. Es läuft zurzeit eine Volksinitiative, die einen neuen Verfassungsartikel für eine verbindliche Neutralität sowie das Verbot der Verhängung von Sanktionen verlangt. Wenn diese Volksinitiative die nötige Unterschriftenzahl erreicht, besteht die Chance, mit einem nationalen Urnengang der politischen Klasse bei der Demontage der Neutralität in den Arm zu fallen.
Mit der Sicherung bzw. Rückgewinnung der Neutralität ist eine erste Etappe erreicht – gleichzeitig eine wichtige Voraussetzung, um das Land im Weiteren auf eine Perspektive der Multipolarität umorientieren zu können: Für eine Schweiz ohne extraterritoriale Anwendung von US-Sanktionen; für eine Schweiz, in der die Würde der Diplomatie wieder Gültigkeit hat; für eine Schweiz, die sich für eine faire Kooperation mit den Schwellenländern stark macht, statt sich den Interessen eines Hegemons unterzuordnen; für eine glaubwürdige Schweiz, die vermittelt, statt einseitig Partei zu ergreifen. Und: je stärker die geopolitische Dynamik hin zu einer multipolaren Weltordnung wird, umso rascher können wir dahin gelangen – im Interesse einer friedlichen Entwicklung der gesamten Völkerfamilie.