Die Volksrepublik China, ein sozialistischer Staat?
Von Stefan Hofer
In Diskussionen mit intelligenten, demokratisch gesinnten Menschen über Sozialismus und bürgerlich-parlamentarische Demokratie mit kapitalistischer Marktwirtschaft wird oftmals argumentiert, eine nach den Bedürfnissen der Menschen, der Gesellschaft gelenkte Planwirtschaft wäre eine gute Sache, aber die Erfahrungen der sozialistischen Staaten hätten gezeigt, dass die Planwirtschaften nicht so effizient funktionieren wie die kapitalistische Marktwirtschaft.
Tatsächlich hat die Geschichte leider bewiesen, dass das sowjetische Modell einer zentral staatlich gelenkten Planwirtschaft im knallharten, als Wirtschaftskrieg geführten ökonomischen Wettbewerb mit den höchstentwickelten kapitalistischen Staaten in der Entwicklung der Produktivität der Volkswirtschaft unterlegen war. Lange haben wir gemeint bzw. gehofft, dass die offensichtliche Unterlegenheit der sozialistischen Planwirtschaft auf der Ebene der Betriebswirtschaft durch die Vorzüge und Stärken der sozialistischen Planwirtschaft auf der Ebene der Volkswirtschaft mindestens kompensiert würde. Dabei haben wir an die volkswirtschaftlich nutzlosen Aufwände im kapitalistischen Konkurrenzkampf und an die Verluste durch exorbitante Kosten für Werbung und Marketing gedacht.
Die Versuche, die sozialistische Planwirtschaft durch Reformen (z.B. NöSPL in der DDR) innovativer und effizienter zu machen, wurden abgebrochen, bevor Erfolg oder Misserfolg bewertet werden konnte. Am Ende der achtziger Jahre war in der CSSR noch eine sozialistische Wirtschaftsreform im Gange, die jedoch nicht mehr zu Ende geführt werden konnte, deren Ergebnisse nicht mehr evaluiert und für den Sozialismus genutzt werden konnten.
Als sich im Laufe der achtziger Jahre abzeichnete, dass die sozialistischen Staaten wirtschaftlich nicht mehr aufholten, sondern im Wettbewerb mit dem Westen vor allem in der Elektronik trotz grosser Anstrengungen zunehmend abgehängt wurden, stellte sich die Frage, ob die Einführung von marktwirtschaftlichen Elementen in einer sozialistischen Volkswirtschaft überhaupt möglich ist und zu einer Leistungssteigerung führen kann, ohne dass der sozialistische Charakter der Gesellschafts- und Wirtschaftsordnung preisgegeben werden muss. Diejenigen, welche den Sozialismus als endgültig gescheitert betrachteten, argumentierten, Marktwirtschaft und Sozialismus seien unvereinbar, ein bisschen schwanger sei eben nicht möglich.
Der Sozialismus kann den Kapitalismus als überlegene bessere Gesellschaftsordnung nur besiegen, wenn er im ökonomischen Wettbewerb mindestens mithalten kann. Der Sozialismus muss in Wissenschaft und Technik dem Kapitalismus mindestens ebenbürtig sein. Ein Sozialismus, der in der wirtschaftlichen Leistung und Produktivität den hochentwickelten kapitalistischen Staaten unterlegen ist, kann den Kapitalismus im Weltmassstab nicht überwinden.
Die Sowjetunion hat in der Wissenschaft auf den meisten Gebieten Weltniveau gehabt und die sowjetische Rüstungsindustrie war technologisch auf höchstem Niveau. Aber die Strukturen der sowjetischen Planwirtschaft und der sowjetischen Rüstungsindustrie waren derart, dass die Ergebnisse der wissenschaftlichen Forschung und die in der militärischen Rüstung entwickelten Technologien in viel zu geringem Masse und viel zu wenig schnell für die zivile Wirtschaft nutzbar gemacht werden konnten.
Nach dem Tod von Mao Zedong (1976) – und später noch verstärkt nach dem Untergang der Sowjetunion (1991) – hat die kommunistische Partei Chinas anfangs der achtziger Jahre unter der Führung von Deng Xiaoping beschlossen, die chinesische Volkswirtschaft umzustrukturieren zu einer sozialistischen Marktwirtschaft. Die seither erzielten Erfolge in der Entwicklung der Wirtschaft der VR China sind einzigartig in der Weltgeschichte. So hat sich das Bruttoinlandprodukt (BIP) der VR China von 1990 bis 2012 in nur 23 Jahren verfünfundzwanzigfacht. Ein Vergleich mit kapitalistischen Volkswirtschaften, die bezüglich des Wirtschaftswachstums Spitzenwerte erreicht haben, beweist die Einzigartigkeit dieser Entwicklung. So hat sich das BIP der USA in den 200 Jahren von 1800 bis zum Jahr 2000 vervierundzwanzigfacht. Die Industrieproduktion von Deutschland hat sich von 1870 (Reichsgründung 1871) bis 1915 in 45 Jahren verfünffacht und die Industrieproduktion von Japan hat sich in den 25 Jahren von 1950 bis 1974 verzehnfacht. Damit hat die VR China das neoliberale Dogma, dass sich die Wirtschaft nur optimal entwickelt, wenn es keine staatlichen Industrieunternehmen gibt und der Staat nicht regulierend und lenkend in die Entwicklung der Wirtschaft eingreift, eindrücklich widerlegt.
In der Wirtschaft der VR China gibt es einen grossen kapitalistisch-privatwirtschaftlichen Sektor. Es gibt zahlreiche Produktionswerke von ausländischen kapitalistischen Konzernen und es gibt Börsen, an denen Aktien gehandelt werden. Viele Kritiker, die sich als politisch linksstehend betrachten, beurteilen daher die chinesische Wirtschaft als Staatskapitalismus mit allen Erscheinungen, die zum Kapitalismus gehören: grosse Einkommens- und Wohlstandsunterschiede, Ausbeutung der Lohnarbeiter, private Aneignung der Profite. Es trifft zu, dass nicht wenige Chinesen als kapitalistische Unternehmer reich und manche sogar superreich geworden sind, während ein grosser Teil der Bevölkerung der VR China noch in bescheidenen Verhältnissen lebt und es in China auch noch Armut gibt.
Aber es gibt in der Industrie der VR China auch einen starken staatlichen Sektor. Die Schüsselindustrien, die Bodenschätze, die Infrastrukturen (Verkehrswege, Energieversorgung etc.) sind staatlich. Ausserdem nimmt der Staat regulierend und lenkend Einfluss auf die Volkswirtschaft, damit sich diese in die durch die Fünfjahrespläne vorgegebene Richtung entwickelt. In keinem kapitalistischen Staat gibt es eine staatliche Planung der Wirtschaftsentwicklung mit Fünfjahresplänen mit dem Ziel der Verbesserung der materiellen und kulturellen Lebensverhältnisse der Bevölkerung. Die Repräsentanten der kapitalistischen Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung führen daher verständlicherweise Klage darüber, dass in China immer noch die Kommunistische Partei das Sagen hat und der Staat die Wirtschaft in noch viel zu hohem Masse kontrolliert und lenkt. So wird auch immer wieder darüber geklagt, dass die Chinesen die Technologien der Investoren aus dem kapitalistischen Ausland kopieren und sich aneignen.
Tatsächlich ist die VR China ein von der Kommunistischen Partei beherrschter Staat. Die VR China versteht sich als Staat, der das Ziel anstrebt, bis in einigen Jahrzehnten eine entwickelte sozialistische Gesellschaftsordnung zu schaffen. Bis zum 100. Jahrestag der Gründung der Volksrepublik (2049) sollen die materiellen Grundlagen einer sozialistischen Gesellschaftsordnung geschaffen werden. China ist auf dem Weg zum Sozialismus. Wenn in der gegenwärtigen Entwicklungsetappe durch eine planwirtschaftlich gelenkte Marktwirtschaft mit einem bedeutenden privatwirtschaftlich-kapitalistischen Sektor die bestmögliche Entwicklung der Produktivkräfte erreicht werden kann, ist das für China der richtige Weg zur Schaffung der materiellen Grundlagen einer sozialistischen Gesellschaft in historisch kurzer Zeit.
In den vergangenen Jahren hat denn auch die VR China bereits grossartige Verbesserungen der Lebensverhältnisse der Bevölkerung erreicht. So wurden zwischen 1991 und 2013 700 Millionen Menschen aus der Armut geholt. Die Zahl der Wanderarbeiter konnte um über 100 Millionen gesenkt werden. Bis in wenigen Jahren wird die Armut besiegt sein. Eine flächendeckende Kranken- und Rentenversicherung ist in den letzten Jahren auf- und ausgebaut worden, so dass heute die meisten Chinesen renten- und krankenversichert sind. Gleichzeitig sind auch auf dem Gebiet des Umweltschutzes grosse Anstrengungen unternommen worden, deren Auswirkungen schon sichtbar und spürbar sind. Die Einführung einer Einkommensbegrenzung ist geplant. Der Gini-Koeffizient (0 = Gleichverteilung, 1 = maximale Ungleichverteilung) soll in den nächsten Jahren auf unter 0,4 sinken.
Dass die Marktwirtschaft in China nicht eine kapitalistische Marktwirtschaft nach neoliberalen Vorstellungen ist, widerspiegelt sich auch in den Medien der westlichen kapitalistischen Staaten. So war in der Neuen Zürcher Zeitung vom 3. August 2018 zu lesen:
«Als China in die Organisation (WTO) aufgenommen wurde, erwarteten die westlichen Länder, dass sich das Reich der Mitte schnell in Richtung Marktwirtschaft bewege. Dem war nicht wirklich so. Vor kurzem warf Dennis Shea, der US-Botschafter bei der WTO, China vor, das Land sei ‹die grösste protektionistische, merkantilistische Volkswirtschaft der Welt.› Chinas Wirtschaft wird weiterhin von staatlich subventionierten und gelenkten Unternehmen dominiert.»
Auch die internationale Politik der VR China spricht für eine antiimperialistische Orientierung der Volksrepublik. Die VR China ist im Begriff, die Hegemonie der USA und ihrer Verbündeten zu brechen. Die Rolle, welche China in der UNO spielt, und das Wirken Chinas in der Gruppe der BRICS-Staaten und der Schanghaier-Organisation für Zusammenarbeit sind darauf gerichtet, die globale Vorherrschaft der USA zu brechen und damit die Weltordnung demokratischer und gerechter zu machen. Auch das Projekt einer neuen Seidenstrasse dient nicht nur dem Export der VR China, sondern fördert die wirtschaftliche Entwicklung aller daran beteiligten Staaten und ist somit echte Entwicklungshilfe. China unterstützt zahlreiche Staaten mit immensen Beiträgen bei der Entwicklung ihrer Infrastruktur zu Bedingungen, wie sie kein kapitalistischer Staat zu bieten bereit ist. Dabei betont die VR China, dass sie nicht eine Hegemonie anstrebt quasi als Nachfolger der USA.
Die Initiative zur Gründung der Asiatischen Infrastruktur-Entwicklungsbank (AIIB) wie auch das Bestreben, den US-Dollar als internationale Leitwährung zurückzudrängen durch Abbau der Dollar-Guthaben aus US-Bonds und durch Abschluss von Handelsverträgen mit Preisen in chinesischer Währung, sowie die Absicht, alternative Systeme für die Abwicklung des internationalen Zahlungsverkehrs zu schaffen, sind darauf gerichtet, die internationale Vorherrschaft der USA zu überwinden und die Möglichkeiten der USA, anderen Staaten durch Wirtschaftssanktionen ihren Willen aufzuzwingen, einzuschränken.
Solange die VR China auf dem eingeschlagenen Weg weiter voranschreitet und das gesetzte Ziel, bis zur Mitte des Jahrhunderts die Grundlagen einer sozialistischen Gesellschaft zu schaffen, nicht aus dem Blick verliert, verdient das Land kritische Solidarität.
Es ist zu hoffen, dass die Macht der Kommunistischen Partei und ihr Programm in der Bevölkerung so gut verankert sind, dass nicht eine chinesische Bourgeoisie die Kommunistische Partei von der Macht verdrängen und das Land als Partner der USA in eine imperialistische Weltordnung führen wird. Wir mussten erleben, dass antisozialistische Kräfte auch innerhalb der machtausübenden Kommunistischen Partei wirken und im Extremfall eine antisozialistische Linie durchsetzen können.
Auf der VR China ruht heute die Hoffnung der unterdrückten Völker, dass die von den USA dominierte imperialistische Weltordnung überwunden werden kann.