Albert Einstein: «Warum Sozialismus?»
Von Matthias Goldschmidt
Die Welt feiert 2005 das Einsteinjahr. Anlass sind der 100. Geburtstag der Relativitätstheorie und der 50. Todestag des weltberühmten Wissenschaftlers. 1905 veröffentlichte Albert Einstein in Bern fünf Aufsätze, die unser Weltbild tiefgreifend veränderten. Diese Arbeiten revolutionierten die klassische Vorstellung von Raum, Zeit, Materie und Energie.
Wie war der geniale Mann nach Bern gekommen? Am 14. März 1879 in Ulm geboren, besuchte er das Luitpold-Gymnasium in München, wo die Familie seit 1880 lebte. Ausserdem erlernte er bereits im zarten Alter von 5 Jahren das Geigenspiel. 1894 entschloss sich Einstein, der Schule und München ohne Abschluss den Rücken zu kehren und seiner Familie zu folgen, die bereits seit einigen Jahren in Mailand lebte. Er gab seine deutsche Staatsbürgerschaft auf, um dem Armeedienst zu entgehen, wurde somit staatenlos und trat auch aus der jüdischen Religionsgemeinschaft aus.
Dem Wunsch seines Vaters, Elektrotechnik zu studieren, kam Einstein nicht nach. Stattdessen folgte er dem Hinweis eines Freundes der Familie und bewarb sich um einen Studienplatz am Zürcher Polytechnikum, der heutigen Eidgenössischen Technischen Hochschule. Da er kein Maturzeugnis hatte, musste er im Sommer 1895 eine Aufnahmeprüfung ablegen, die er – mit 16 Jahren jüngster Teilnehmer – jedoch nicht bestand. Statt der notwendigen intensiven Vorbereitung hatte er Reisen durch Norditalien den Vorzug gegeben. So meisterte er zwar den naturwissenschaftlichen Teil mit Bravour, seine Allgemeinbildung liess jedoch zu wünschen übrig. Auf Vermittlung des von ihm überzeugten Rektors und Physikers Heinrich Weber besuchte er im Folgejahr die liberal geführte Kantonsschule Aarau und erwarb dort die Matur.
Mit Beginn des akademischen Jahres 1896 nahm er sein Studium am Polytechnikum auf. Einstein verliess die ETH im Jahr 1900 mit einem Diplom als Fachlehrer für Mathematik und Physik. Seine Bewerbungen auf Assistentenstellen an der ETH und anderen Universitäten waren jedoch nicht von Erfolg gekrönt. Er verdingte sich als Hauslehrer in Winterthur, Schaffhausen und schliesslich in Bern. 1901 wurde sein Antrag auf Einbürgerung als Schweizer bewilligt. Anfang 1902 erhielt Einstein endlich eine feste Anstellung: Als «technischer Experte dritter Klasse» beim Eidgenössischen Patentamt in Bern.
Von Oktober 1903 bis Mai 1905 wohnte Einstein an der Berner Kramgasse 49 – heute das Einstein-Haus Bern, ein Museum. Und dort in Bern war es auch, wo er im Jahr 1905, im Alter von nur 26 Jahren, jene Werke veröffentlichte, die ihn weltberühmt machen und die Physik revolutionieren sollten. Ausserdem hatte er am 30. April seine Dissertation mit dem Titel «Eine neue Bestimmung der Moleküldimensionen» an der Universität Zürich eingereicht, wofür er am 15. Januar 1906 den Doktortitel in Physik erhielt.
Am 30. Juni 1905 schlug dann in Bern eine Sternstunde der Menschheit: Einstein reichte seine Abhandlung «Zur Elektrodynamik bewegter Körper» bei den «Annalen der Physik» ein. Schon am darauf folgenden Tag lieferte Einstein seinen Nachtrag «Ist die Trägheit eines Körpers von seinem Energieinhalt abhängig?» Dieser enthält zum ersten Mal die wohl berühmteste Formel der Welt E = m · c2 (Energie ist gleich Masse mal Lichtgeschwindigkeit zum Quadrat, Äquivalenz von Masse und Energie). Beide Arbeiten zusammen werden heute als Spezielle Relativitätstheorie bezeichnet.
Einsteins Habilitation zum Physikprofessor wurde an der Berner Universität 1907 zunächst abgelehnt (!), erst im folgenden Jahr war er damit erfolgreich. 1909 berief man ihn zum ausserordentlichen Professor für Theoretische Physik an der Universität Zürich. 1911 wechselte er an die deutschsprachige Prager Karls-Universität. Doch schon 1912 kehrte er nach Zürich zurück, um an der Eidgenössischen Technischen Hochschule zu forschen und zu lehren (wo er 1895 die Aufnahmeprüfung nicht bestanden hatte…).
Aber Albert Einstein hat auch grundlegende Gedanken über Zusammenhänge von Wissenschaft und Gesellschaft, Ökonomie, Geschichte und Gesellschaftssystem geäussert. Die Tatsache, dass sich Einstein einen Grossteil seines Lebens als Sozialist verstand und gegen Faschismus, Rassismus und Krieg engagierte, wird von den bürgerlichen Medien gerne verschwiegen. In den zwanziger Jahren hielt er unter anderem wiederholt Vorträge in der Marxistischen Arbeiterschule der KPD, vornehmlich zu Themen wie: «Warum braucht der Arbeiter die Relativitätstheorie?»
Es ist nur allzu verständlich, dass er in den USA bis zu seinem Lebensende als Kommunist verdächtigt wurde (es gibt eine gewaltige FBI-Fiche über ihn – bis zu seinem Lebensende 1955!). Allein seine Popularität bewahrte Einstein davor, selbst in die Mühlen der McCarthy-Justiz zu geraten und bewirkte, daß alle Diffamierungsversuche an ihm abprallten. Obwohl die Kampagne gegen ihn vom FBI geheim geführt wurde, wusste Einstein Bescheid. Bei einer Dinnerparty 1948 sagte er dem polnischen Botschafter: «Ich nehme an, dass Sie inzwischen wissen, dass die USA kein freies Land mehr ist, dass unsere Unterhaltung zweifelsohne aufgenommen wird. Das Zimmer ist verwanzt und mein Haus wird streng überwacht.» Das Protokoll dieser Unterhaltung und damit die Bestätigung der Warnung ist in der FBI-Akte Einstein enthalten!
Dass er sich selbst als konsequenter Humanist und Sozialist gesehen hat, bezeugte auch seine langjährige (1928–1955) Sekretärin Helene Dukas (sie entstammte einer jüdischen Familie aus Sulzburg im Breisgau), die selber Kommunistin ohne Parteibuch war (von ihr ist die Einstein-Biographie: «Einstein – Schöpfer und Rebell»). Einstein hat sich offensichtlich nicht, wie viele andere, von der Erkenntnis der Notwendigkeit des Sozialismus abbringen lassen. Der folgende Essay «Warum Sozialismus?» gehört in dieser Beziehung zu den wichtigsten Arbeiten Albert Einsteins. «Why Socialism?» wurde erstmals 1949 in der Ausgabe Nr. 1 der Zeitschrift «Monthly Review» des amerikanischen Marxisten Paul Sweezy veröffentlicht. Der Text wurde redaktionell leicht überarbeitet.
Warum Sozialismus?
Ist es nun ratsam für jemanden, der kein Experte auf dem Gebiet ökonomischer und sozialer Fragen ist, sich zum Wesen des Sozialismus zu äussern? Ich denke aus einer Reihe von Gründen, dass dies der Fall ist. Lasst uns die Frage vorerst vom Standpunkt der wissenschaftlichen Erkenntnisse aus betrachten. Es mag so erscheinen, als ob es keine wesentlichen methodologischen Unterschiede zwischen Astronomie und Ökonomie gäbe: Wissenschaftler beider Gebiete versuchen, allgemein akzeptable Gesetze für eine begrenzte Anzahl von Phänomenen zu entdecken, um deren Zusammenhänge so verständlich wie möglich zu machen. Aber in Wirklichkeit existieren solche methodologischen Unterschiede.
Die Entdeckung von allgemeingültigen Gesetzen im Bereich der Ökonomie wird dadurch erschwert, dass die zu betrachtenden ökonomischen Phänomene von vielen Faktoren beeinflusst sind, die einzeln schwer zu beurteilen sind. Ausserdem waren die Erfahrungen, die sich seit Beginn der sogenannten «zivilisierten Periode» der menschlichen Geschichte angesammelt haben – wie wir wissen – stark von Faktoren beeinflusst und beschränkt, die keineswegs ausschliesslich ökonomischer Natur sind. Zum Beispiel verdanken die grösseren Staatengebilde ihre Existenz den Eroberungen. Die erobernden Völker machten sich selbst – gesetzlich und wirtschaftlich gesehen – zur privilegierten Klasse des eroberten Landes. Sie sicherten sich das Monopol an Landbesitz und ernannten Priester aus ihren eigenen Reihen. Diese Priester – die die Macht über das Erziehungswesen hatten – institutionalisierten die Teilung der Gesellschaft in Klassen und schufen ein Wertesystem, das die Menschen von da an – in einem hohen Grad unbewusst – in ihrem sozialen Verhalten leitete.
Aber auch wenn diese historische Tradition eigentlich der Vergangenheit angehört, haben wir das, was Thorstein Veblen die «räuberische Phase» der menschlichen Entwicklung nannte, nirgends wirklich überwunden. Die wahrnehmbaren ökonomischen Fakten gehören zu eben dieser Phase und selbst diejenigen Gesetze, die wir aus ihnen ableiten können, sind nicht auf andere Phasen anwendbar. Da es das reale Ziel des Sozialismus ist, genau über diese räuberische Phase menschlicher Entwicklung zu siegen und diese zu überwinden, kann die heutige wissenschaftliche Ökonomie wenig Licht auf die zukünftige sozialistische Gesellschaft werfen.
Zum Zweiten ist der Sozialismus auf ein sozial-ethisches Ziel ausgerichtet. Wissenschaft kann jedoch keine Ziele schaffen, geschweige denn, sie den Menschen einflössen: Wissenschaft kann bestenfalls die Mittel liefern, mit denen bestimmte Ziele erreicht werden können. Aber die Ziele selbst werden von Persönlichkeiten mit hochgesteckten ethischen Idealen erdacht und – wenn diese Ziele nicht totgeboren, sondern vital und kraftvoll sind – werden sie von den vielen Menschen übernommen und weitergetragen, die teilweise unbewusst die langsame Weiterentwicklung der Gesellschaft bestimmen.
Aus diesen Gründen sollten wir auf der Hut sein und keine Wissenschaft und wissenschaftliche Methode überschätzen, wenn es um eine Frage der Probleme der Menschheit geht; und wir sollten nicht davon ausgehen, dass Experten die einzigen sind, die ein Recht darauf haben, sich zu Fragen zu äussern, die die Organisation der Gesellschaft betreffen. Unzählige Stimmen behaupten seit geraumer Zeit, dass nun, da die menschliche Gesellschaft eine Krise durchmache, ihre Stabilität ernsthaft erschüttert worden sei. Es ist charakteristisch für solch eine Situation, dass sich Individuen gleichgültig oder sogar feindlich gegenüber der kleinen oder grossen Gruppe verhalten, zu der sie gehören.
Hierzu eine persönliche Erfahrung: Ich erörterte vor kurzem mit einem intelligenten und freundlich gesonnenen Mann die Bedrohung durch einen erneuten Krieg, der meiner Meinung nach die Existenz der Menschheit ernsthaft gefährden würde, und ich bemerkte, dass nur eine supranationale Organisation Schutz vor dieser Gefahr gewährleisten könnte. Daraufhin sagte mein Besucher – sehr ruhig und gelassen –: «Warum bist du so vehement gegen das Verschwinden der Menschheit?» Ich bin mir sicher, dass ein Jahrhundert früher niemand so leicht eine derartige Bemerkung gemacht hätte. Es ist die Aussage eines Mannes, der sich vergebens bemüht hat, sein inneres Gleichgewicht zu finden und der mehr oder weniger die Hoffnung auf Erfolg verloren hat. Es ist der Ausdruck einer schmerzhaften Vereinsamung und Isolation, an der so viele Leute in dieser Zeit leiden. Was ist die Ursache? Gibt es einen Ausweg?
Es ist einfach, solche Fragen aufzuwerfen, viel schwieriger hingegen, sie mit Gewissheit zu beantworten. Doch das muss ich versuchen, so gut ich kann, obwohl ich mir der Tatsache bewusst bin, dass unsere Gefühle und unsere Bestrebungen oft widersprüchlich und obskur sind und dass sie nicht in einfachen Formeln ausgedrückt werden können.
Der Mensch ist gleichzeitig ein Einzel– und ein Sozialwesen. Als ein Einzelwesen versucht er, seine eigene Existenz und die derjenigen Menschen zu schützen, die ihm am nächsten sind sowie seine Bedürfnisse zu befriedigen und seine angeborenen Fähigkeiten zu entwickeln. Als ein Sozialwesen versucht er, die Anerkennung und Zuneigung seiner Mitmenschen zu gewinnen, ihre Leidenschaften zu teilen, sie in ihren Sorgen zu trösten und ihre Lebensumstände zu verbessern. Allein die Existenz dieser vielseitigen, häufig widerstreitenden Bestrebungen macht den speziellen Charakter des Menschen aus, und die jeweilige Kombination bestimmt, inwieweit ein Individuum sein inneres Gleichgewicht erreichen und damit etwas zum Wohl der Gesellschaft beitragen kann. Es ist gut vorstellbar, dass die relative Kraft dieser beiden Antriebe hauptsächlich erblich bedingt ist. Aber die Persönlichkeit wird letztlich weitestgehend von der Umgebung geformt, die ein Mensch zufällig vorfindet, durch die Gesellschaftsstruktur, in der er aufwächst, durch die Traditionen dieser Gesellschaft und dadurch, wie bestimmte Verhaltensweisen beurteilt werden. Der abstrakte Begriff «Gesellschaft» bedeutet für den einzelnen Menschen die Gesamtheit seiner direkten und indirekten Beziehungen zu seinen Zeitgenossen sowie zu den Menschen früherer Generationen. Das Individuum allein ist in der Lage, zu denken, zu fühlen, zu kämpfen, selbständig zu arbeiten; aber es ist in seiner physischen, intellektuellen und emotionalen Existenz derart abhängig von der Gesellschaft, dass es unmöglich ist, es ausserhalb des gesellschaftlichen Rahmens zu betrachten. Es ist die «Gesellschaft», die den Menschen Kleidung, Wohnung, Werkzeuge, Sprache, die Formen des Denkens und die meisten Inhalte dieser Gedanken liefert, sein Leben wird durch die Arbeit möglich gemacht und durch die Leistungen der vielen Millionen Menschen früher und heute, die sich hinter dem Wörtchen «die Gesellschaft» verbergen.
Deshalb ist die Abhängigkeit des Einzelnen von der Gesellschaft ein Naturgesetz, das – wie im Falle von Ameisen und Bienen – offenbar nicht einfach so abgeschafft werden kann. Doch während der gesamte Lebensprozess von Ameisen und Bienen bis hin zum kleinsten Detail an starre, erbliche Instinkte gebunden ist, sind die sozialen Muster und die engen sozialen Verbindungen der Menschen sehr empfänglich für verschiedenste Veränderungen. Das Gedächtnis, die Kapazität, Neues zu versuchen und die Möglichkeit, mündlich zu kommunizieren haben für den Menschen Entwicklungen möglich gemacht, die nicht von biologischen Gegebenheiten diktiert wurden. Solche Entwicklungen manifestieren sich in Traditionen, Institutionen und Organisationen, in der Literatur, in wissenschaftlichen und technischen Errungenschaften, in künstlerischen Arbeiten. Das erklärt, weshalb der Mensch in einem gewissen Sinne sein Leben selbst beeinflussen kann und dass in diesem Prozess bewusstes Denken und Wollen eine Rolle spielt. Der Mensch erwirbt mit der Geburt durch Vererbung eine biologische Grundlage, die wir als fest und unabänderlich betrachten müssen. Dies schliesst die natürlichen Triebe ein, die für die menschliche Spezies charakteristisch sind. Darüber hinaus erwirbt er während seines Lebens eine kulturelle Grundlage, die er von der Gesellschaft durch Kommunikation und durch viele andere Arten von Einflüssen übernimmt. Es ist diese kulturelle Grundlage, die im Lauf der Zeit Änderungen unterworfen ist, und die zu einem grossen Teil die Beziehungen zwischen dem Individuum und der Gesellschaft bestimmt. Die moderne Anthropologie hat uns durch vergleichende Untersuchungen der sogenannten «primitiven Kulturen» gelehrt, dass das soziale Verhalten von Menschen sehr unterschiedlich sein kann und jeweils abhängig ist von den vorherrschenden kulturellen Mustern und dem in der Gesellschaft vorherrschenden Organisationstyp.
Auf diese Tatsache können diejenigen bauen, die das Los der Menschen verbessern wollen: Menschen werden nicht durch ihre biologischen Konstitution dazu verdammt, einander zu vernichten oder auf Gedeih und Verderb einem schrecklichen, selbst auferlegten Schicksal zu erliegen.
Wenn wir uns fragen, wie die Gesellschaftsstruktur und die kulturelle Einstellung des Menschen geändert werden soll, um das menschliche Leben so befriedigend wie möglich zu machen, sollten wir uns immer bewusst sein, dass es bestimmte Bedingungen gibt, die wir unmöglich verändern können. Wie bereits erwähnt, sieht die biologische Natur des Menschen in der Praxis keine Änderung vor. Des weiteren haben technologische und demographische Entwicklungen der letzten Jahrhunderte Bedingungen geschaffen, die bleibend sind. Bei einer relativ hohen Bevölkerungsdichte und mit Blick auf die Waren, die für ihre Existenz unentbehrlich sind, sind eine extreme Arbeitsteilung und ein hoch zentralisierter Produktionsapparat unbedingt notwendig. Die Zeiten, in denen Individuen oder relativ kleine Gruppen völlig autark sein konnten – und die zurückblickend so idyllisch erscheinen – sind unwiderruflich vorbei. Es ist nur eine leichte Übertreibung, zu behaupten, dass die Menschheit jetzt sogar eine weltweite Gemeinschaft in Bezug auf Produktion und Verbrauch bildet.
An diesem Punkt angelangt, kann ich kurz aufzeigen, was für mich das Wesen der Krise unserer Zeit ausmacht. Es betrifft die Beziehung des Einzelnen zur Gesellschaft. Der Einzelne ist sich seiner Abhängigkeit von der Gesellschaft bewusster als je zuvor. Aber er erfährt diese Abhängigkeit nicht als etwas Positives, Organisches, als Schutzgewalt, sondern eher als eine Bedrohung seiner naturgegebenen Rechte, oder sogar seiner ökonomischen Existenz. Ausserdem ist seine Stellung in der Gesellschaft so, dass die egoistischen Triebe ständig hervorgehoben, während die sozialen Triebe, die er von Natur aus hat, schwächer werden und immer mehr verkümmern. Alle Menschen leiden unter diesem Prozess der Verschlechterung – ganz gleich welche Stellung sie in der Gesellschaft innehaben. Als unwissentlich Gefangene ihrer eigenen Ich-Bezogenheit fühlen sie sich unsicher, einsam und des ursprünglichen, einfachen und schlichten Genusses des Lebens beraubt. Der Mensch kann den Sinn seines kurzen und bedrohten Lebens nur innerhalb der Gesellschaft finden.
Die ökonomische Anarchie der kapitalistischen Gesellschaft heute ist meiner Meinung nach die eigentliche Ursache des Übels. Wir sehen vor uns eine riesige Gemeinschaft von Erzeugern, deren Mitglieder unaufhörlich bestrebt sind, einander die Früchte ihrer kollektiven Arbeit zu entziehen – nicht mit Gewalt, aber in getreuer Einhaltung der gesetzlich feststehenden Regeln. In dieser Hinsicht ist es wichtig zu realisieren, dass die Produktionsmittel – d.h. die ganze produktive Kapazität, die für das Produzieren von Verbrauchsgütern wie auch von zusätzlichen lnvestitionsgütern erforderlich ist – gesetzlich gesehen im privaten Besitz von Individuen sein können und zum grössten Teil ist das auch so. Um es einfacher zu machen werde ich im folgenden all jene als «Arbeiter» bezeichnen, die kein Eigentum an Produktionsmitteln besitzen – auch wenn dies nicht der üblichen Verwendung des Ausdrucks entspricht. Der Eigentümer der Produktionsmittel ist in einer Position, in der er die Arbeitskraft des Arbeiters kaufen kann. Mit den Produktionsmitteln produziert der Arbeiter neue Waren, die ins Eigentum des Kapitalisten übergehen. Wesentlich in diesem Prozess ist die Relation zwischen dem, was der Arbeiter verdient und dem, was ihm dafür bezahlt wird – beides gemessen am wirklichen Wert. Dadurch dass der Arbeitsvertrag «offen» ist, wird das, was der Arbeiter erhält, nicht vom wirklichen Wert der produzierten Waren bestimmt sondern durch seinen Minimalbedarf und durch die Erfordernisse des Kapitalisten im Zusammenhang mit der Zahl der Arbeiter, die miteinander um die Arbeitsplätze konkurrieren. Es ist wichtig, zu verstehen, dass sogar in der (ökonomischen) Theorie die Bezahlung des Arbeiters nicht vom Wert seines Produkts bestimmt wird.
Privates Kapital tendiert dazu, in wenigen Händen konzentriert zu werden – teils aufgrund der Konkurrenz zwischen den Kapitalisten und teils, weil die technologische Entwicklung und die wachsende Arbeitsteilung die Entstehung von grösseren Einheiten auf Kosten der kleineren vorantreiben. Das Ergebnis dieser Entwicklungen ist eine Oligarchie von privatem Kapital, dessen enorme Kraft nicht einmal von einer demokratisch organisierten politischen Gesellschaft überprüft werden kann. Dies ist so, da die Mitglieder der gesetzgebenden Organe von politischen Parteien ausgewählt sind, die im Wesentlichen von Privatkapitalisten finanziert oder anderweitig beeinflusst werden und in der Praxis die Wähler von der Legislative trennen. Die Folge ist, dass die «Volksvertreter» die Interessen der unterprivilegierten Schicht der Bevölkerung nicht ausreichend schützen. Ausserdem kontrollieren unter den vorhandenen Bedingungen die Privatkapitalisten zwangsläufig direkt oder indirekt die Hauptinformationsquellen (Presse, Radio, Bildung). Es ist deshalb äusserst schwierig und, für den einzelnen Bürger in den meisten Fällen fast unmöglich, objektive Schlüsse zu ziehen und in intelligenter Weise Gebrauch von seinen politischen Rechten zu machen.Die Situation in einem Wirtschaftssystem, das auf dem Privateigentum an Kapital basiert wird durch zwei Hauptprinzipien charakterisiert: erstens sind die Produktionsmittel (das Kapital) in privatem Besitz, und die Eigentümer verfügen darüber, wie es ihnen passt; zweitens ist der Arbeitsvertrag offen. Natürlich gibt es keine rein kapitalistische Gesellschaft. Vor allem sollte beachtet werden, dass es den Arbeitern durch lange und bittere politische Kämpfe gelungen ist, bestimmten Kategorien von Arbeitern eine ein wenig verbesserte Form des «nichtorganisierten Arbeitervertrags» zu sichern. Aber als Ganzes genommen unterscheidet sich die heutige Wirtschaft nicht sehr von einem «reinen» Kapitalismus.
Die Produktion ist für den Profit da – nicht für den Bedarf. Es gibt keine Vorsorge dafür, dass all jene, die fähig und bereit sind, zu arbeiten immer Arbeit finden können. Es gibt fast immer ein «Heer von Arbeitslosen». Der Arbeiter lebt dauernd in der Angst, seinen Job zu verlieren. Da arbeitslose und schlecht bezahlte Arbeiter keinen profitablen Markt darstellen, ist die Warenproduktion beschränkt und grosse Not ist die Folge. Technologischer Fortschritt führt häufig zu mehr Arbeitslosigkeit statt zu einem Milderung der Last der Arbeit für alle. Das Gewinnmotiv ist in Verbindung mit der Konkurrenz zwischen den Kapitalisten für Instabilität in Akkumulation und Verwendung des Kapitals verantwortlich und dies bedeutet zunehmende Depressionen. Unbegrenzte Konkurrenz führt zu einer riesigen Verschwendung von Arbeit und zu dieser Lähmung des sozialen Bewusstseins von Individuen, die ich zuvor erwähnt habe. Diese Lähmung der Einzelnen halte ich für das grösste Übel des Kapitalismus. Unser ganzes Bildungssystem leidet darunter. Dem Studenten wird ein übertriebenes Konkurrenzstreben eingetrichtert und er wird dazu ausgebildet, raffgierigen Erfolg als Vorbereitung für seine zukünftige Karriere anzusehen.
Ich bin davon überzeugt, dass es nur einen Weg gibt, dieses Übel loszuwerden, nämlich den, ein sozialistisches Wirtschaftssystem zu etablieren, begleitet von einem Bildungssystem, das sich an sozialen Zielsetzungen orientiert. in solch einer Wirtschaft gehören die Produktionsmittel der Gesellschaft selbst und ihr Gebrauch wird geplant. Eine Planwirtschaft, die die Produktion auf den Bedarf der Gemeinschaft einstellt, würde die durchzuführende Arbeit unter all denjenigen verteilen, die in der Lage sind zu arbeiten und sie würde jedem Mann, jeder Frau und jedem Kind einen Lebensunterhalt garantieren. Die Bildung hätte zum Ziel, dass die Individuen zusätzlich zur Förderung ihrer eigenen angeborenen Fähigkeiten einen Verantwortungssinn für die Mitmenschen entwickeln anstelle der Verherrlichung von Macht und Erfolg in unserer gegenwärtigen Gesellschaft.
Dennoch ist es notwendig festzuhalten, dass eine Planwirtschaft noch kein Sozialismus ist. Eine Planwirtschaft als solche kann mit der totalen Versklavung des Individuums einhergehen. Sozialismus erfordert die Lösung einiger äusserst schwieriger sozio–politischer Probleme: Wie ist es angesichts weitreichender Zentralisierung politischer und ökonomischer Kräfte möglich, eine Bürokratie daran zu hindern, allmächtig und masslos zu werden? Wie können die Rechte des Einzelnen geschützt und dadurch ein demokratisches Gegengewicht zur Bürokratie gesichert werden?In unserem Zeitalter des Wandels ist Klarheit über die Ziele und Probleme des Sozialismus von grösster Bedeutung. Da unter den gegenwärtigen Umständen die offene und ungehinderte Diskussion dieser Probleme einem allgegenwärtigen Tabu unterliegt, halte ich die Gründung dieser Zeitschrift für ausgesprochen wichtig.