Reflexionen über «Die Internationale»
von Günter Mayer
Wenn über das Verhältnis zwischen Arbeiterbewegung, Partei und Menschenrechten reflektiert wird, fällt jedem im deutschsprachigen Raum, der mit linker, sozialistischer Politik gross geworden ist, ein Lied ein, in dessen Refrain vom «Menschenrecht» die Rede ist. Ihr erinnert Euch bestimmt an den Text, wenn wir ihn hören (hier ein Beispiel gesungen von den Delegierten des Vereinigungsparteitages von KPD und SPD 1946 in Berlin):
Völker hört die Signale!
Auf, zum letzten Gefecht!
Die Internationale
Erkämpft das Menschenrecht.
In dieser Hymne des Weltproletariats wird die Zielstellung, das «Menschenrecht» zu erkämpfen, im Refrain wiederholt und somit bekräftigt.
Die deutsche Text-Fassung stammt von Emil Luckhardt (1880–1914), der den französischen Originaltext von Eugène Pottier (1816–1887) aus dem Jahre 1871 bereits 1905 ins Deutsche übertragen und 1910 veröffentlicht hat. Das ist die im 20. Jahrhundert im deutschsprachigen Raum einzig wirklich populär gewordene. Was wir so oft mit diesen Worten gesungen haben, ist die Melodie, die Pierre Degeyter (1848–1932) im Jahre 1888 erfunden hat und die die ganze Welt eroberte. Bis dahin wurde der Text auf die Melodie der Marseillaise gesungen. Dass er in 85 Sprachen übersetzt wurde, heisst, dass er auch in mehr als 85 Ländern ein ganz wesentlicher Faktor in den kapitalismuskritischen, revolutionären Bewegungen vor allem des 20. Jahrhunderts gewesen ist. Und darin ist auch das linke Rechtsbewusstsein kritisch und programmatisch formiert worden.
Allerdings: Die programmatische Losung der Internationale, das Menschenrecht zu erkämpfen, d.h. eine zivilgesellschaftliche Ordnung der Rechtsverhältnisse, die allen Menschen gleiche Rechte garantiert, ist nirgends so deutlich und nachdrücklich formuliert worden, wie in der Fassung des Refrains durch Emil Luckhardt.
Das wird ganz klar, wenn wir uns zunächst der Originalfassung des Refrains und danach seiner Übersetzung ins Russische, Französische, Englische, Italienische und Spanische zuwenden – um uns nur auf einen wesentlichen Teil des europäischen Raums zu beschränken.
Im französischen Original von 1871 lautet der Refrain (hier gesungen von Pete Seeger, USA):
C’est la lutte finale
Groupons nous, et demain
L’Internationale
Sera le genre humain!
Hier geht es also nicht speziell um die «Menschenrechte», sondern um «le genre humain», d.h. um das ganze «Menschengeschlecht».
So ist das auch in der russischen Version von Arkadi Jakowlewitsch Kotz, die 1902 im russischen Emigranten-Magazin «Life» veröffentlicht worden ist. Diese Übersetzung ins Russische ist (zusammen mit der Melodie von Pierre Degeyter – d.Red.) von 1918 bis 1943 sogar als Hymne der Sowjetunion verwendet worden
Этo есть наш последный
И решительный бой
С Интернационалом
Воспянет род людской!
Auch «rod lyudskoy» meint das «Menschengeschlecht», nicht das «Menschenrecht». Ebenso ist das in der englischen Version des Refrains, die von Martin Glasse stammt und in England und Irland gemeinhin gesungen worden ist (z.B. vom Socialist Victory Choir)
Then come comrades rally
And the last fight let us face
The Internationale
Unites the human race!
Wie bei «genre humain» und «rod lyudskoy» geht es auch hier um «the human race». In der italienischen Version ist das nicht anders, z.B. in einer Aufnahme aus Turin 1971:
Tutti uniti lottiamo
Il nostro fine sara
La rivoluzione sara
Per l’intera umanità!
Auch mit «umanità» wird auf die «Menschheit» verwiesen. Es sei nur der Refrain in Spanisch zitiert, wo eben dieser Bezug auf die Menschheit («el género humano») ganz deutlich ist, gesungen in Chile 1973, beim Trauerzug für Pablo Neruda:
Agrupémonos todos
en la lucha final.
El género humano
es la internacional!
Daraus nun zu folgern, dass vor allem im deutschsprachigen Raum mit der Akzeptanz der Fassung von Emil Luckhardt die Problematik der Menschenrechte im Refrain des Liedes besonders intensiv reflektiert worden ist und in den anderen Ländern nicht, ist allerdings falsch. Das wird sofort deutlich, wenn wir uns den Strophen zuwenden. Da findet sich zunächst die scharfe Kritik der bloss formalen Rechte:
Im französischen Original von Eugene Pottier steht in der dritten Strophe:
Le droit du pauvre et un mot creux (Das Recht der Armen ist ein hohles Wort)
In der russischen Übersetzung steht in der dritten Strophe:
А наше право – звүк пүстой (Und unser Recht – ein leerer Ton)
Es ist wörtlich diese Aussage! Und im französischen Original steht die programmatische Forderung nach einer anderen Rechtsordnung im Zentrum der dritten Strophe:
L’égalité veut d’autre lois:
Pas de droits sans devoirs, dit-elle,
Égaux, pas de devoirs sans droits.
Diese Formulierungen sind fast wörtlich in der englischen Übersetzung wiederzufinden:
Equality wants other laws:
No right without obligations, it says,
And as well, no obligations without rights.
Ganz ähnlich ist das in den verschiedenen Übersetzungen des Textes ins Deutsche. Es sei zunächst an die populäre von Emil Luckhardt erinnert. In der zweiten Strophe heisst es:
Leeres Wort: des Armen Rechte!
Leeres Wort: des Reichen Pflicht!
Unmündig nennt man uns und Knechte,
Duldet die Schmach nun länger nicht!
Diese Kritik des sozial beschränkten bürgerlichen Rechts finden wir bereits in der ersten deutschen Übersetzung aus dem Jahre 1901, die von Franz Diederich stammt. Da steht in der dritten Strophe:
Des Armen Recht ist arm und taub…
Und es folgt die programmatische Einforderung einer anderen Rechtsordnung:
Kein Recht, dem keine Pflicht gegeben,
Und keine Pflicht, die ohne Recht!
Eben diese Kombination von Kritik und Programmatik hat auch Sigmar Mehring (1856–1915) wenige Jahre später in seiner Übersetzung der dritten Strophe deutlich artikuliert:
Der Staat erdrückt, Gesetz ist Schwindel!
Die Steuern trägt der Arbeitsknecht.
Man kennt nur Reiche und Gesindel,
Und Phrase ist: ‚des Armen Recht’.
Die Gleichheit soll den Bann vernichten,
Und für das kommende Geschlecht
Gilt: ‚Keine Rechte ohne Pflichten’
Und: Nichts von Pflicht mehr, wo kein Recht.
Der Refrain bleibt dann aber im Unterschied zu Luckhardt im Unbestimmten:
Nun kämpft zum letzten Male,
Stürmt an! Schon winkt uns dort
Die Internationale
Der Menschheit Ziel und Hort.
Erich Weinert (1890–1953) schrieb 1937 für das Thälmann-Bataillon in Spanien eine neue Übersetzung. In der dritten Strophe knüpft er direkt an Pottier, Diederich und Mehring an.
Hören wir diesen Text in einer Aufnahme aus der DDR mit Matthias Kiessling:
Staat und Gesetz gehen über Leichen.
Die Steuer wird zum Massenmord.
Wo gibt es Pflichten für den Reichen?
Des Armen Recht – ein leeres Wort!
Genug! Es sprechen jetzt die Knechte
Und das Gesetz der Gleichheit spricht:
Nicht eine Pflicht mehr ohne Rechte,
und keine Rechte ohne Pflicht.
Zum letzten Kampf! Ihr alle,
ihr Völker im Verein,
Die Internationale
Wird alle Menschheit sein!
Auch bei Weinert bleibt der Refrain im Abstrakt-Allgemeinen: «wird alle Menschheit sein».
Es zeigt sich also, dass in der Übersetzung von Emil Luckhardt die Linie der Rechtskritik aufgegriffen und durch die im Refrain formulierte programmatische Orientierung am intensivsten zum Ausdruck gebracht worden ist. Wohl ein Grund dafür, dass diese Fassung dann so populär geworden ist.
Erstaunlicherweise gibt es auch die deutsche Fassung einer anarchistischen Internationale, in deren Refrain es heisst: «Die Internationale kämpft für das Menschenrecht».
Erich Mühsam schrieb 1919 die «Internationale der Rotgardisten» für die Räterepublik. Von Rechtskritik bzw. -programmatik ist da nichts zu hören. Im Refrain heisst es:
Grausig tönen die Fanfaren
Auf zum letzten Gefecht!
Der Galgen den Barbaren,
dem Volk das Sonnenlicht!
Hier ist wohl noch die Tradition der radikalen Lieder der französischen Revolution lebendig:
Ja, das geht ran, das geht ran,
die Aristokraten an die Laternen!
Dass die poetischen Bilder in den frühen Arbeiterliedern im Hinblick auf die Charakterisierung der Unterdrückungsverhältnisse derb, drastisch und in den Bildern von den Befreiungsperspektiven überschwenglich, ja schwülstig formuliert worden sind, d.h. weit entfernt von erst noch zu erkämpfenden Rechtsnormen einer kapitalistisch bzw. sozialistisch formierten Zivilgesellschaft, lässt sich besonders in der Geschichte dieses Liedes beobachten, das – wie gesagt – in 85 Sprachen, also wirklich weltweit, gesungen worden ist.
Dem sich bildenden Rechtsbewusstsein lag seinerzeit offensichtlich die Überzeugung zu Grunde, dass die Zeit quasi mit Naturgewalt reif sei für eine neue Rechtsordnung befreiter, freier Menschen. Schon in der ersten Strophe steht bei Emil Luckhardt:
Das Recht, wie Glut im Kraterherde
nun mit Macht zum Durchbruch dringt
(bei Pottier stand an der Stelle «la raison tonne en son cratère», in der englischen Fassung entsprechend «reason»)
Und diese neue Rechtsordnung sollte in einem Akt, im «letzten Gefecht» des Proletariats für die Menschheit insgesamt, weltweit errichtet werden können. Für dieses neue historische Subjekt wurde ein Recht beansprucht: In der 6. Strophe der russischen Übersetzung heisst es:
Лишь мы, работники всемирный
Великой армии труда
Владеть землей имеем право
но паразиты – никогда !
Also das heisst:
Nur wir, die Arbeitenden der weltweiten,
grossen Armee der Arbeit
Haben das Recht, die Erde zu beherrschen,
die Parasiten aber – nie !
Das war – wie wir erfahren haben – eine Utopie, die gewissermassen gläubige Formulierung einer sozialistischen Perspektive. Ja, die grosse Hoffnung der Kommunisten, Sozialisten, Anarchisten, Sozialdemokraten auf eine allseitige Verwirklichung der Menschenrechte ist in den Ländern des realen Sozialismus nicht nur nicht voll erfüllt, sondern in der Zeit der Schauprozesse unter Stalin und im Archipel Gulag enttäuscht und ins Gegenteil verkehrt worden. (Die «Internationale» als Nationalhymne wurde u.a. aus diesem Grunde als Belastung erachtet und 1943, zur Zeit des «Grossen Vaterländischen Krieges», nachdem endgültig klar war, dass das internationale Proletariat der Sowjetunion nicht durch Fortsetzung der Weltrevolution helfen würde, durch die patriotischere sowjetische Nationalhymne «Soyuz neruschimy» ersetzt. – d.Red.) Auch in den volksdemokratischen Ländern, nicht zuletzt in der DDR, gab es erhebliche Einschränkungen. So stand die Internationale quer zur gesellschaftlichen Realität, wurde mitunter gesungen als Moment kritischer Aktionen gegen die herrschende Rechtsordnung, etwa 1989 von den Studenten auf dem Platz des himmlischen Friedens in der VR China (und auch im Oktober 1989 in der DDR – d.Red.).
Eine genuin-humanistische, menschheitliche Gesellschafts- und Rechtsperspektive ist in einem, zudem «letzten Gefecht» nicht zu erreichen. An deren historischer Notwendigkeit dürfte nach allen bitteren Erfahrungen heutzutage kaum ein Wissender mehr zweifeln. Nur, wer diese Notwendigkeit wann und wo, gegen wen und mit wem, in welchen Etappen zu realisieren in der Lage sein wird, in den Zentren wiederum anders als in den Peripherien, ist ungewiss. Ebenso die Anzahl von «Gefechten» und erst Recht von Ergebnissen und möglichen Einschränkungen.
Dass sich in dieser Richtung in den Gesellschaften etwas grundsätzlich ändern muss, ist in der «Internationale» weltweit artikuliert worden – utopisch, die Herzen von Millionen bewegend, deren «Erwachen» immer noch und wieder nötig ist. Das Wissen, dass das «Recht» sich nicht als Naturgewalt durchsetzen wird, stellt die sozialen Anwälte des Rechts vor höchst komplizierte Widerspruchsfelder, in denen das «Menschenrecht» ohne Kämpfe nicht zu haben ist.
Das wissend, bleibt die «Internationale», wie wir sie kennen, ein Klangort der Erinnerung und zugleich ein Impuls, die Kämpfe in den gegenwärtigen Gesellschaften trotz aller, ja wegen aller Ernüchterung nicht aufzugeben, sondern intensiv fortzusetzen.
Sie klingt ja immer noch und immer wieder gut:
Völker hört die Signale!
Auf, zum letzten Gefecht!
Die Internationale
Erkämpft das Menschenrecht.
Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit.
Günter Mayer (6.11.1930–2.9.2010) war marxistischer Musikphilosoph, Professor der Humboldt-Universität, Schüler von Harry Goldschmidt. Diesen Beitrag zur Veranstaltung «Menschenrechte und Sozialismus. Zum 60. Jahrestag der Menschenrechtsdeklaration» der Rosa-Luxemburg-Stiftung hat er am 4. Dezember 2008 in Berlin gehalten – verbunden mit den erwähnten Musikbeispielen.
Die Musikbeispiele sind entnommen der Schallplatte
«Die Internationale», 100 Jahre 1888–1988 (Eterna 8 15 171)
In Zusammenarbeit mit der Akademie der Künste der DDR und den Nationalen Forschungs- und Gedenkstätten für Deutsche Kunst und Literatur des 20. Jahrhunderts.
Konzeption: Peter Andert, Texte: Inge Lammel und Klaus-Peter Schwarz.