Vor 25 Jahren: Bombardierung Jugoslawiens durch die NATO − «Zeitenwende» am 24. März 1999

Von Prof. Dr. Norman Paech, Hamburg

Seitdem Bundeskanzler Olaf Scholz die «Zeitenwende» als prägenden Begriff in sein politisches Vokabular eingeführt hat, erfreut sich das Wort gewisser Beliebtheit. Es ist beliebig anwendbar auf die verschiedensten Krisen und Ereignisse, z.B. das Ende des Zweiten Weltkrieges und die Kapitulation Deutschlands am 8. Mai 1945, den Untergang der Sowjetunion am 31. Dezember 1991, den Terrorangriff auf das World Trade Center am 11. September 2001 oder ganz frisch auf den Angriff der Hamas auf Israel am 7. Oktober 2023.

Es kommt nur darauf an, von welcher nationalen und politischen Warte aus man das Ereignis betrachtet. So sollte man aus der Sicht der Bundesrepublik Deutschland viel eher den 24. März 1999 als den Scholz’schen 24. Februar 2022 als Zeitenwende begreifen, an dem die Bundeswehr sich am ersten innereuropäischen Krieg der NATO nach dem Zweiten Weltkrieg – gegen Jugoslawien – beteiligte. [1] Fast genau 54 Jahre hatte zumindest in Europa Frieden geherrscht trotz zahlreicher Kriege, die europäische Staaten außerhalb Europas geführt hatten. Seitdem ist das Friedensge­bot kaputt. Und genau 23 Jahre danach folgte der zweite europäische Krieg – Russlands gegen die Ukraine –, der in Wirklichkeit ein Krieg der NATO unter »dienender Führung« (Robert Habeck) Deutschlands gegen Russland ist.

Die Vorgeschichte

Zur Vorgeschichte dieses 24. März 1999 gehört ein Blick auf den Zerfall Jugoslawiens, der faktisch 1989 begann, als Präsident Slobodan Milošević die Autonomie des Kosovo innerhalb Jugoslawiens aufhob und die Unabhängigkeitsbestrebungen von Slowenien und Kroatien in den Jahren 1991/1992 den Bestand Jugoslawiens in Frage stellten. [2] Jugoslawien kämpfte mit einer schweren wirtschaftlichen und politischen Krise. In die­ser labilen Situation erklärte Bundeskanzler Helmut Kohl am 1. Juli 1991, dass man die EG zur Anerkennung der beiden Republiken drängen sollte und machte massiven Druck auf die anderen EG-Staaten. Trotz der eindringlichen Warnungen von UN-Generalsekretär Perez de Cuellar erkannte Deutschland die beiden abtrünnigen Republiken Slowenien und Kroatien im Dezember 1991 an, die elf anderen EG-Staaten folgten im Januar 1992.

Es kam, wie es Perez de Cuellar befürchtet hatte und Außenminister Genscher mit der Anerkennung verhindern wollte, die Gewalt eskalierte. Zugleich aber begann in den deutschen Medien und der Politik eine Propagandaschlacht, die die Serben und ihren Ministerpräsidenten Slobodan Milošević für die Ausweitung der Gewalt und der Pogro­me allein verantwortlich machte. Kaum etwas beschreibt die kriegstreibende Rolle der Medien besser, als die Aussagen des Leiters des Kosovo-Regionalbüros der europäi­schen Beobachtermission ECMM, Bundeswehroffizier Dietmar Hartwig, die allerdings erst 10 Jahre später an die Öffentlichkeit drangen:

»Massive, gar staatlich gelenkte Verbrechen gegen die Bevölkerung wie ethnische Säube­rungen waren mir in der Zeit zwischen Ende 1998 und dem Ausbruch des NATO-Kriegs weder aus den Berichten der Beobachter noch aus den Gesprächen mit führenden koso­vo-albanischen Politikern bekannt. Dennoch sprachen die Medien ständig von einer grundlosen Brutalität der serbischen Sicherheitskräfte gegen die Bevölkerung. Gleichzei­tig verschwiegen sie die Angriffe der selbsternannten kosovo-albanischen »Befreiungs­armee« UCK auf staatliche Einrichtungen und auf serbische Personen. Die Medieninfor­mationen, die mir während meiner Zeit im Kosovo und danach vorlagen, zeigen ein Bild, das mit der Realität nichts zu tun hatte. Serbische Sicherheitskräfte haben in aller Regel auf UCK-Angriffe nur reagiert, sie sind nicht grundlos tätig geworden. Gerade in der Zeit der ständig zunehmenden Angriffe der UCK auf jugoslawische Polizei- und Militäreinrich­tungen hat sich die serbische Exekutive in bemerkenswerter Weise zurückgehalten.« [3]

Wurde die UCK anfangs noch als das wahrgenommen, was sie war, eine Terrororganisa­tion, mutierte sie spätestens 1998 zur »Befreiungsarmee des Kosovo«. Noch im Früh­jahr 1998 hatten die USA Milošević grünes Licht zur Bekämpfung der UCK gegeben. Dann lud man sie zur Konferenz von Rambouillet, [4] machte sie zu den Wortführern aller Albaner und rüstete sie gegen die Serben auf. Die »Friedenskonferenz« von Rambouillet war offensichtlich nicht auf Frieden zwischen den Völkern und die Lösung des Kosovo-Problems programmiert. Man verlangte von Milosevic ultimativ die Zustimmung zur Sta­tionierung von NATO-Truppen in Serbien, eine absurde Forderung, welche die totale Unterwerfung bedeutet hätte. Milosevic musste ablehnen und lieferte damit die erwünschte Scheinlegitimation für die unmittelbar danach erfolgende Bombardierung Serbiens, die die NATO unter Führung der USA schon längst geplant hatte.

Krieg ohne UNO-Mandat

Politik und Medien mussten dieses gigantische Lügengemälde inszenieren, denn der am 24. März 1999 von der NATO gegen Jugoslawien begonnene Angriffskrieg war nicht nur der erste innereuropäische Krieg, sondern auch der erste Krieg nach dem Zweiten Weltkrieg, an dem die Bundeswehr sich aktiv beteiligte, und er war völkerrechtswidrig. Die Alliierten hatten bewusst den UN-Sicherheitsrat nicht um ein Mandat ersucht, da sie das sichere Veto der Russen und Chinesen erwarteten. Allen Beteiligten war die Völ­kerrechtswidrigkeit ihres Handelns voll bewusst, vor allem der Bundesregierung mit Kanzler Gerhard Schröder (SPD) und Vizekanzler Joschka Fischer (Bündnis GRÜNE) in Berlin. Schon Monate vor dem Überfall auf Jugoslawien hatte der deutsche Diplomat Hans Arnold gewarnt:

»Würden die NATO-Staaten … ohne UNO-Mandat mit militärischer Gewalt gegen Jugosla­wien vorgehen, dann würden sie nicht nur einen eklatanten Völkerrechtsbruch begehen, sondern zweifellos auch weiteren Völkerrechtsverletzungen Tür und Tor öffnen. … Kein wie auch immer gearteter Zweck könnte dieses Mittel heiligen.« [5

Auch der ehemalige Botschafter in Belgrad (1979 bis 1984) und frühere Chef des Bun­deskanzleramts (1972 bis 1974), Horst Grabert, stellte schon frühzeitig, als sich der NATO-Angriff abzeichnete, fest:

»Alle Beteiligten … kennen die Völkerrechtswidrigkeit der Aktion und camouflieren dies auch nur sehr unvollkommen.« [6]

Dennoch versuchten Bundesregierung und Medien mit höchst zweifelhaften ja falschen Fakten (Massaker von Rugova und Račak, KZ von Pristina, Hufeisenplan etc.) [7] und Kon­struktionen (Humanitäre Intervention) [8], den öffentlichen Protest gegen den Angriffs­krieg zu entkräften. [9] Es dauerte 15 Jahre, bis Schröder, nun Ex-Kanzler, freimütig einge­stand, dass dieser Krieg seinerzeit völkerrechtswidrig gewesen sei. Die Bundesrepublik habe »zusammen mit der NATO einen souveränen Staat gebombt, ohne dass es einen [UN-]Sicherheitsratsbeschluss gegeben hätte«, erklärte Schröder im Fernsehsender Phö­nix und auf einer Diskussionsveranstaltung der Wochenzeitung Die Zeit: »Ohne Sicher­heitsratsbeschluss eine kriegerische Auseinandersetzung zu führen, war ein Verstoß gegen das Völkerrecht.« [10]

Der Angriffskrieg der NATO hat nie eine ordentliche gerichtliche Überprüfung, sei es vor dem Jugoslawien-Tribunal oder später dem Internationalen Strafgerichtshof (IStGH) in Den Haag, erfahren. Die Klage von Opfern eines NATO-Luftangriffs auf die Brücke in dem kleinen Ort Varvarin, bei dem 10 Tote und 30 Verletzte zu beklagen waren, wurde vom Bundesgerichtshof (BGH) in dritter Instanz abgewiesen: das Kriegsvölkerrecht ken­ne keine Schadenersatzansprüche zwischen geschädigten Einzelpersonen und einem fremden Staat und ein Anspruch aus Amtshaftung käme nicht in Betracht, da die Bun­deswehr das Völkerrecht nicht verletzt habe. [11] So blieb es verschiedenen Initiativen in der Nachfolge der früheren Russel-Tribunale vorbehalten, in einzelnen Tribunalen von Tokyo bis New York die NATO-Kriegsführung nach den gleichen Prinzipien des humani­tären Völkerrechts zu prüfen, wie sie das Jugoslawien-Tribunal in Den Haag bei seinem Prozess gegen Milošević wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Völkermord seit dem 12. Februar 2001 anwandte.

Tribunal in Berlin

Am 2. Juni 2000 trat die damalige Chefanklägerin Carla Del Ponte vor den UNO-Sicher­heitsrat und begründete die Einstellung der Untersuchungen gegen die NATO damit, dass eine Kommission die Vorwürfe gegen die NATO geprüft habe und zu dem Schluss gekommen sei, dass sie strafrechtlich als nicht relevant und durchschlagend einzustu­fen seien. [12] Am gleichen Tag eröffnete in Berlin ein Internationales Europäisches Tribu­nal in der evangelischen Heilig-Kreuz-Kirche seine Untersuchungen. Mehrere hundert Teilnehmerinnen und Teilnehmer waren aus über 20 Ländern angereist, um der Anklage gegen die Staats- und Regierungschefs aus 19 NATO-Staaten und ihrer Militärs sowie den zahlreichen Sachverständigen und Zeugen aus dem Kriegsgebiet zuzuhören. Die zwölfköpfige Jury kam aus acht europäischen Staaten. Am 3. Juni 2000 verkündete sie ihr Urteil und erklärte die Angeklagten wegen ihres 78 Tage dauernden Angriffskrieges gegen die Bundesrepublik Jugoslawien schwerer Verstöße gegen die Völkerrechtsord­nung für schuldig.

Der Angriff verstieß eindeutig gegen das absolute Gewaltverbot nach Art. 2 Ziff. 4 UNO-Charta in Verbindung mit dem Aggressionsverbot der Resolution 3314 (XXIX) der UNO-Generalversammlung vom 14. 12. 1974 sowie gegen das Verbot der Verletzung der ter­ritorialen Souveränität gemäß Art. 2 Ziff. 4 UNO-Charta i.V. mit der Deklaration über freundschaftliche Beziehungen und Zusammenarbeit zwischen den Staaten im Sinne der Charta der Vereinten Nationen, Resolution 2625 (XXV) der UNO-Generalversamm­lung vom 24. 10. 1970. Da es keinen Angriff Jugoslawiens auf ein NATO-Land gegeben hatte und der UNO-Sicherheitsrat auch kein Mandat für den Angriff gegeben hatte, musste die NATO-Führung eine Rechtfertigung konstruieren, die sie in der sogenannten humanitären Intervention glaubte gefunden zu haben. Vor allem die Minister Fischer und Scharping fochten vehement mit höchst zweifelhaften und erfundenen Zeugnissen für die These einer humanitären Katastrophe. Zwar hatte vor allem der im Kosovo zwi­schen den separatistischen Verbänden der UCK und der jugoslawischen Polizei und Armee entbrannte Bürgerkrieg zu großen Verlusten an Menschenleben auf beiden Sei­ten, zur Zerstörung von Häusern und Ortschaften und Vertreibung von Albanern wie Serben, Kroaten, Roma und Angehöriger anderer Ethnien sowie schweren Menschen­rechtsverletzungen geführt. Die Jury war aber nicht davon überzeugt, dass es sich hier um eine humanitäre Katastrophe handelte.

Selbst für den Fall einer humanitären Katastrophe in den Jahren 1998 und 1999 sah das Tribunal darin nicht die Legitimation für eine humanitäre Intervention ohne Mandat des UNO-Sicherheitsrats. Das Tribunal setzte sich mit der Rechtsprechung des Interna­tionalen Gerichtshof (IGH) auseinander und entschied:

»In der Praxis der Staaten, die das Völkergewohnheitsrecht begründet und in der ganz überwiegenden Meinung der Völkerrechtslehre, ist die humanitäre Intervention nicht als eine Institution anerkannt, die eine Ausnahme vom absoluten Gewaltverbot erlaubt. Es gilt nach wie vor, was der Internationale Gerichtshof (IGH) im Rechtsstreit Nikaragua gegen USA in seinem Urteil vom 27. Juni 1986 zur humanitären Intervention gesagt hat. Die Anwendung von Gewalt kann keine geeignete Methode sein, die Achtung der Men­schenrechte zu überwachen oder zu sichern. Hinsichtlich der angegriffenen Maßnahmen (ist festzustellen), dass der Schutz der Menschenrechte, ein strikt humanitäres Ziel, unvereinbar ist mit der Verminung von Häfen, der Zerstörung von Ölraffinerien … Das Gericht kommt zu dem Ergebnis, dass das Argument, das von der Wahrung der Menschenrechte in Nikaragua hergeleitet wird, keine juristische Rechtfertigung für das Verhalten der USA liefern kann. (ICJ Rep. 1986, § 268) An diesem Stand des Völkerrechts hat sich entgegen den Behauptungen so mancher bis heute nichts geändert.«

Eine Anklage wegen Aggression/Angriffskrieg gemäß Art. 8bis Römisches Statut vor dem Internationalen Strafgerichtshof (IStGH) war zu der Zeit noch nicht möglich, da dieser Straftatbestand erst im Juli 2018 aktiviert und damit verfolgbar wurde. Doch konnte das Tribunal die Kriegsführung der NATO-Staaten mittels zahlreicher Zeugen und Sachverständigen untersuchen, die einen strategischen Plan der Ausweitung der Angrif­fe auch auf zivile Einrichtungen wie Krankenhäuser, Dörfer oder die Radiostation RTS bezeugten. Die oftmals wiederholten Angriffe konnten auch nicht mit der Versicherung »unbeabsichtigter Kollateralschäden« verteidigt werden. Die Verhandlungen ergaben, dass die Kriegsführung offensichtlich planmäßig die Zivilbevölkerung in Mitleidenschaft ziehen wollte, um sie dazu zu bringen, die Regierung von Präsident Milošević zu vertrei­ben. Diese Kriegsführung verstößt eindeutig gegen zentrale Vorschriften der IV. Genfer Konvention von 1949 und des I. Zusatzprotokolls zu den Genfer Abkommen von 1977.

Ein besonders schwerer Verstoß gegen internationales Recht war der Einsatz abgerei­cherten Urans und sogenannter Streubomben. Die NATO soll etwa 31.000 Bomben auf Jugoslawien abgeworfen haben, die 10 Tonnen abgereichertes Uran auf dem Erdboden hinterlassen haben. Es ist heute unbestritten, dass die Verwendung beider Waffenarten eine schwere Verletzung der Art. 35 ff. und 48 des I. Zusatzprotokolls und des Genfer Protokolls über das Verbot erstickender, giftiger oder ähnlicher Gase sowie bakterio­logischer Mittel im Krieg von 1925 darstellt. Beide Waffenarten stehen zusätzlich unter dem Verbot unterschiedslos wirkender und besonders grausamer Waffen nach Art. 51 I. Zusatzprotokoll.

Es blieb lange Zeit ungeklärt und rätselvoll, wie die damalige Chefanklägerin Carla del Ponte bei diesen eindeutigen Fakten und Beweisen für schwere Kriegsverbrechen zu der Einstellung der Untersuchungen am Jugoslawien-Tribunal kommen konnte. 1922 veröffentlichte sie jedoch ein schmales Buch mit dem Titel »Ich bin keine Heldin«, in dem sie das Rätsel löste und bekannte, dass sie an den Ermittlungen gehindert wurde: »Als ich in Brüssel die Unterlagen anforderte, kooperierte die NATO nicht. Ihr Generalse­kretär verwies mich an die einzelnen Mitgliedstaaten. Dann hieß es plötzlich, die Doku­mente seinen vernichtet worden. Eine Lüge …« [13] Ähnlich erging es ihr übrigens beim Ruanda-Tribunal, dessen Chefanklägerin sie ebenfalls war. Als sie dort die Ermittlungen gegen die Hutus wegen Kriegsverbrechen auf die Tutsi ausdehnen wollte, wurde ihr von Großbritannien und den USA nachdrücklich bedeutet, dass das nicht opportun sei. Del Ponte musste die Ermittlungen stoppen.

Neue NATO-Strategie

Weitgehend unbeachtet ist ein Ereignis noch während der Bombardierung Jugoslawiens geblieben, welches aber entscheidende Bedeutung für die Kriegsführung der NATO in den folgenden Jahren haben sollte. Am 24. April 1999 kamen die NATO-Staaten in Washington zusammen, um eine neue Strategie zu beschließen. Sie sollte zunächst den Krieg gegen Jugoslawien nachträglich rechtfertigen, denn sie erteilte sich selbst das Mandat, in Krisensituationen, die die Interessen der Bündnisstaaten ernsthaft berüh­ren, weltweit zu intervenieren. Damit änderte sie aber zugleich die Aufgaben der NATO, die bis dahin nach Art. 5 NATO-Vertrag strikt auf die Verteidigung des Bündnisgebietes beschränkt war. Die versammelten Staats-und Regierungschefs waren der Ansicht, dass sie diese doch erhebliche Aufgabenerweiterung der NATO gleichsam »unter Män­nern« verabreden konnten. Insbesondere Bundeskanzler Schröder und sein Außenmi­nister Fischer meinten, dass man dazu den Bundestag nicht einzuschalten brauche. Allein die PDS-Fraktion im deutschen Bundestag störte das, und sie erhob Organklage vor dem Bundesverfassungsgericht gegen die Bundesregierung mit der Begründung, dass eine so durchgreifende Änderung des NATO-Vertrages der Zustimmung des Bun­destages gemäß Art. 59 II Grundgesetz bedürfe. [14] Das Gericht folgte allerdings weitge­hend den Vorstellungen der Regierung vom Vorrang der Exekutive in Fragen der Außen- und Militärpolitik und wies die Klage ab. [15] Es sei kein Wille bei den NATO-Staaten erkennbar, den Vertrag förmlich abzuändern, es fehle eine Klausel, die eine Ratifikation vorsehe wie z.B. bei der Aufnahme neuer Mitglieder. Es handele sich lediglich um ein

»Konsenspapier, in dem die neuen Aufgaben und Instrumente der NATO nur in allgemei­ner Form beschrieben werden und die damit durch ein hohes Maß an Flexibilität und Interpretierbarkeit gekennzeichnet sind« … »Die Erweiterung des sicherheitspolitischen Ansatzes des Bündnisses auf Krisenreaktionseinsätze« sei lediglich »eine Fortentwick­lung des NATO-Vertrages, die sich jedenfalls nicht mit der für die Annahme eines konklu­denten Vertragsänderungswillens nötigen Gewissheit als Widerspruch zum bestehenden Vertragsinhalt oder als dessen Erweiterung deuten lässt.« (Rz. 132 ff.)

Mit Morgenstern’scher Logik entschied das Gericht:

»Aus alledem kann jedoch nicht geschlossen werden, dass eine objektive Änderung des NATO-Vertrages vorliegt. Die getroffenen Inhaltsbestimmungen lassen sich noch als For­tentwicklung und Konkretisierung der offen formulierten Bestimmungen des NATO-Vertra­ges verstehen.« (Rz.145)

Der Krieg gegen Jugoslawien ist der befürchtete Pilotfall zukünftiger Kriege mit Beteili­gung der NATO-Staaten geworden – eine unwiderstehliche Kombination modernster Waffentechnologie, imperialem Machtanspruch und gesetzloser Gewalt. Die Gerichte, vom Landgericht bis zum Internationalen Gerichtshof, sind in der jeweils aktuellen Situ­ation der zivilisatorischen Bedrohung nicht gewachsen. Die Folge völkerrechtswidriger Kriege von Irak 2003 über Libyen 2011 bis zu Gaza 2024 basiert auf dem Widerspruch zwischen hochentwickelten Codices und Normen des Internationalen Rechts und den Gerichten, deren politische Anpassung die Durchsetzung dieser Gesetze nicht erlaubt.

Hamburg, 19. Februar 2024 

Anmerkungen:

  • [1] Vgl. Norman Paech, Zeitenwende? Zeitenwende, Telepolis vom 24. März 2023.
  • [2] Vgl. Kurt Köpruner, Eurasisches Magazin 07-07 vom 31.07.2007.
  • [3] Interview Cathrin Schütz, junge Welt vom 27. Februar 2008.
  • [4] Gerhard Stuby, Rambouillet oder von den Bemühungen, ein Gespenst los zu werden, in: Johannes Klotz, Ein gerechter Krieg? Bremen 2000, S. 107 – 133.
  • [5] Vgl. Clemens Ronnefeld, Die neue NATO und der Kosovo-Krieg, in Friedensforum 1999.
  • [6] Horst Grabert, Kosovo: Not kennt kein Gebot?, in: Blätter für deutsche und internationale Politik, 12. Dezember 1998.
  • [7] Vgl. »Es begann mit einer Lüge – Deutschlands Weg in den Kosovokrieg«, WDR vom 8. Februar 2001; Tobias Riegel, Kosovo 1999. Der Krieg wurde durch Lügen möglich gemacht, in: Nachdenkseiten vom 14. März 2024.
  • [8] Vgl. Mary Ellen O’Connell, Die Forderung nach humanitären Interventionen – eine kritische Betrachtung, in Gerd Hankel (Hg.), Die Macht und das Recht, Hamburg 2008, S. 229.
  • [9] Vgl. Neil Clark, Kosovo-Lüge, The Guardian, dt. FREITAG vom 16.12.2010.
  • [10] Die Zeit vom 14. März 2014.
  • [11] Urteil BGH, vom 2. November 2006, IIIZR 190/05. juris.bundesgerichtshof.de/cgi-bin/rechtsprechung/document.py (PDF).
  • [12] Vgl. Tageszeitung vom 5. 6. 2000, NATO: Ein Krieg, keine Schuld.
  • [13] Carla del Ponte, Ich bin keine Heldin, Westend Verlag, Frankfurt a.M., 2021, S. 66 f.
  • [14] Vgl. Norman Paech, NATO-Strategie vor dem Bundesverfassungsgericht, in: Blätter für deutsche und internationale Politik I/2002, S. 34 ff.
  • [15] BVerfG, 2 BvE 6/99 vom 22.11.2001, BVerfGE 104, 151 – 214.