Unfaire Vorwürfe an Sahra Wagenknecht in der «Jungen Welt»
Seit Sahra Wagenknecht die Aktion «Aufstehen» initiiert hat, die offenbar zahlreiche Aktivisten aus dem Umfeld der Linkspartei irritiert hat, wird nun versucht, Sahra Wagenknecht als Populistin, die sakrosankte Positionen der antikapitalistischen Linken hinterfragt, zu brandmarken.
Zum Artikel von Knut Mellenthin «Politik der Vereinfachung» vom 8. April 2019
Von Stefan Hofer
Mit einem doppelseitigen Beitrag in der jW vom 8. April 2019 hat Knut Mellenthin den Versuch unternommen, Sahra Wagenknecht als Populistin darzustellen, die nichts von Dialektik versteht und versucht, unter Preisgabe von Grundsätzen eines sozialistischen Humanismus AfD-Wähler anzusprechen und anzulocken.
Dieser Beitrag, der in einem Ton gehalten ist, der mit einer kontroversen Diskussion unter Sozialisten nichts mehr zu tun hat, darf nicht unwidersprochen bleiben.
Sahra Wagenknecht macht sich Gedanken darüber, dass die Linkspartei mit ihrer politischen Linie in einem 8–10%-Ghetto gefangen bleibt ohne die Perspektive, die Mehrheit der Menschen bzw. Wähler, für die sie mehr Demokratie und mehr soziale Gerechtigkeit erkämpfen will, ansprechen und überzeugen zu können. Sahra Wagenknecht fragt sich, warum die AfD mit demokratiefeindlicher und rassistischer Politik 15–20% der Wähler gewinnen kann, während die Linkspartei nicht über 10% hinauskommt, obwohl die meisten AfD-Wähler zur Klasse der Lohnabhängigen mit bescheidenen Einkommen gehören.
Das wichtigste politische Thema der AfD ist die Ausländer- und Migrationspolitik. Die AfD fordert den Stopp der Zuwanderung schlecht qualifizierter Ausländer und die Ausschaffung möglichst vieler Ausländer. Sie schürt Ausländerfeindlichkeit, indem sie die Ausländer verantwortlich macht für Arbeitslosigkeit, Wohnungsnot, zunehmende Kriminalität und missbräuchliche Beanspruchung von Sozialleistungen.
Diese Überlegungen führen zur Frage, ob die Linkspartei die mit der massenhaften Immigration von Ausländern aus den Balkan-Ländern, aus der Türkei, aus Ländern der dritten Welt entstehenden Probleme richtig erkennt, versteht und gewichtet und ob sie dazu die richtigen Antworten hat.
Zum Thema Zuwanderungs- und Asylpolitik beschränkt sich die Linkspartei darauf, aus humanitären Gründen offene Grenzen und Aufnahme von allen, die in die BRD kommen wollen, zu fordern. Sie wendet sich gegen jegliche Einschränkung der Immigration von Ausländern und (mit Recht) gegen jegliche Diskriminierung der in der BRD lebenden Ausländer.
Die Frage stellt sich, ob diese Haltung als Auseinandersetzung mit den mit der massenhaften Ausländerzuwanderung verbundenen Problemen genügt, oder ob damit tatsächlich bestehende Probleme einfach beiseitegeschoben, nicht zur Kenntnis genommen werden.
Was sagt Sahra Wagenknecht dazu? «Die Forderung nach ‹offenen Grenzen für alle› in unserem Parteiprogramm ist eine für eine Welt, in der der Kapitalismus überwunden ist, aber keine für die Welt von heute.»…«Der grösste Teil der Flüchtlinge schafft es nie nach Europa, weil die Mittel dazu fehlen. Vor Ort zu helfen ist deshalb die dringendste Herausforderung. Auch die Bekämpfung von Fluchtursachen ist in der Partei nicht strittig.»…«Strittig ist, ob wir pauschal sagen sollten, jeder der es möchte, kann nach Deutschland kommen, hat hier Anspruch auf landesübliche Sozialleistungen und kann sich eine Arbeit suchen. Das ist eine Position, die man meines Erachtens nicht durchhalten kann.»…«Die Flüchtlingswelle 2015/2016 war wesentlich dadurch bedingt, dass Menschen, die schon aus Syrien geflohen waren, sich nur deshalb auf den Weg gemacht haben, weil sie in den Nachbarländern unsägliche Bedingungen vorgefunden haben… Deswegen hätte man vor Ort viel früher helfen können und müssen.»…«In Deutschland werden aktuell 28 Milliarden Euro pro Jahr für die Integration von Flüchtlingen aufgewandt. Wenn auch nur die Hälfte dieser Summe vor Ort zur Verfügung stünde, würde damit vielen Millionen Menschen, unter ihnen die Ärmsten und Schwächsten, geholfen.»…«Es gibt eine Tendenz, Migration zu idealisieren und seinen Fokus vor allem auf diejenigen zu richten, die es hierher schaffen. Das halte ich für falsch. Eine Gesellschaft kann immer nur in einem bestimmten Rahmen Menschen aufnehmen. Und neben den Fluchtgründen Verfolgung und Krieg gibt es eben auch viele, die aus dem legitimen Wunsch heraus kommen, hier ein besseres Leben zu finden. Aber diese Migration macht erstens die Heimatländer noch ärmer, denn es ist immer die Mittelschicht, die abwandert. Und sie bedeutet, die Lohnkonkurrenz hier bei uns zu verschärfen.»…«Wir haben ein Asylrecht, wir müssen uns um Kriegsflüchtlinge kümmern. Aber, und das ist eine Position, die nahezu alle linken Parteien in Europa teilen: Wir würden als Linke einen grossen Fehler machen, wenn wir im Interesse des Kapitals Arbeitsmigration fördern würden.»…«Den Hungernden und Ärmsten nützen offene Grenzen nichts. Sie haben keine Möglichkeit, nach Europa zu kommen. Deswegen muss man vor Ort helfen, wo es am dringendsten ist.» (Interview mit Sahra Wagenknecht in der jW. vom 8. Juni 2018)
Mit diesen Argumenten setzt sich Knut Mellenthin in seinem Beitrag überhaupt nicht auseinander. Er beschränkt sich darauf, geltend zu machen, dass der Syrer, der am 24. Juli 2016 im fränkischen Ansbach mit einer Bombe 15 Menschen verletzt hat, nicht erst im Herbst 2015 sondern als Asylbewerber schon im Herbst 2014 nach Deutschland gekommen ist. Eine Feststellung, die bezüglich der zitierten Aussagen von Sahra Wagenknecht vollkommen unerheblich ist.
Alsdann behauptet er, Sahra Wagenknecht verkläre bezüglich der Sicherheit der Menschen im öffentlichen Raum die Regierungszeit des Bundeskanzlers Willy Brandt als goldenes Zeitalter, was Sahra Wagenknecht nie auch nicht andeutungsweise gesagt oder geschrieben hat.
Dass die Kriminalität in Gebieten mit extrem hohem Ausländeranteil an der Wohnbevölkerung zugenommen und in diesen Gegenden die Sicherheit der Bewohner im öffentlichen Raum abgenommen hat, wird auch Knut Mellenthin nicht in Abrede stellen können. Das ist aber ein Problem, das man nicht einfach ignorieren und der Demagogie der AfD überlassen darf.
Mit Bezug auf die letzte Präsidentschaftswahl in den USA zitiert Knut Mellenthin Sahra Wagenknecht mit folgender Aussage: «Die US-Bürger haben doch gar nicht in erster Linie den Milliardär Trump gewählt. Sie haben das Weiter-so abgewählt und dafür hatten sie in einem Land, wo die mittleren Löhne heute unter dem Niveau der 80er Jahre liegen, natürlich allen Grund.»
Diese Aussage gibt die Einschätzung wieder, dass bei weitem nicht alle Wählerinnen und Wähler, die statt Hillary Clinton Donald Trump gewählt haben, sich damit für eine aggressive imperialistische Aussenpolitik der USA ausgesprochen haben, sondern einem in der Bevölkerung der USA weit verbreiteten Malaise über die Politik des US-Establishments Ausdruck gegeben haben. Dass sie damit einem Demagogen, der im Gegensatz zu Sahra Wagenknecht tatsächlich ein Populist ist, auf den Leim gegangen sind, widerlegt nicht die Einschätzung, dass man nicht alle Trump-Wähler als faschistoide Antidemokraten abschreiben kann. Die von Knut Mellenthin herausgestrichene Tatsache, dass nur eine Minderheit der Wählenden für Trump gestimmt hat, ist diesbezüglich ganz und gar irrelevant.
Sahra Wagenknecht einen Schmusekurs gegenüber Donald Trump vorzuwerfen, ist eine infame Frechheit, die durch nichts zu belegen ist.
Ebenso verhält es sich mit den Aussagen von Sahra Wagenknecht zu den Wählern der AfD.
Die undifferenzierte, wichtige Fakten ausblendende Haltung der Linken zur Zuwanderungs- und Asylpolitik hat Wähler der Linken und solche, die von der Linken zu gewinnen wären, dazu gebracht, der Wahl fernzubleiben oder die AfD zu wählen. All diese Menschen als fremdenfeindliche Rassisten zu etikettieren ist falsch und entspricht nicht der Realität.
Wer Missstände tabuisiert und nicht zur Kenntnis nehmen will und nicht bereit ist, sich damit auseinanderzusetzen, verliert an Glaubwürdigkeit, wenn die Menschen in ihrem täglichen Leben mit diesen Missständen konfrontiert sind und teilweise auch darunter leiden. Das ist der Faktencheck, der unerlässlich ist, um die arbeitende Bevölkerung zu verstehen und auch zu erreichen.
Zum Artikel von Nico Popp «Eine Lanze für den Markt» vom 18. Mai 2019
Von Stefan Hofer
Nachdem der als «Fakten-Check» überschriebene jW- Artikel von Knut Mellenthin verständlicherweise zahlreiche heftig ablehnende Reaktionen provoziert hat, hat Nico Popp versucht, in einem Artikel mit dem Titel «Eine Lanze für den Markt» mit einer scheinbar etwas feineren Klinge Sahra Wagenknecht zu diskreditieren, indem er ihr vorwirft, bezüglich der Frage der Migration und bezüglich ihrer Vorstellungen von einer sozialistischen Gesellschafts-und Wirtschaftsordnung auf sozialdemokratische Positionen übergegangen zu sein.
Er wirft ihr vor, in der Migrationsfrage von Positionen, die von Engels und Lenin vor über 100 Jahren vertreten worden seien, abzuweichen und sich als linke Sozialdemokratin vom antikapitalistischen Klassenkampf verabschiedet zu haben. Ohne die von Nico Popp angeführten Zitate einschliesslich des Kontextes überprüft zu haben, muss dazu bemerkt werden, dass eine von Engels und Lenin prognostizierte durch massenhafte Immigration bewirkte Förderung und Beschleunigung einer revolutionären Entwicklung tatsächlich nicht eingetreten ist, weder in den USA noch in Europa.
Genau wie Knut Mellenthin unterlässt es auch Nico Popp, sich mit den im Interview in der jW vom 8. Juni 2018 dargelegten Argumenten von Sahra Wagenknecht zur Immigrationsproblematik auseinanderzusetzen. Vielmehr beschränkt er sich darauf, geltend zu machen, Engels und Lenin seien diesbezüglich anderer Meinung gewesen.
Schliesslich begründet Nico Popp seinen Standpunkt, Sahra Wagenknecht stehe heute auf sozialdemokratischen Positionen, sie habe vom revolutionären Bestreben, den Kapitalismus zu überwinden, definitiv Abschied genommen, mit den Überlegungen zum Thema Marktwirtschaft in ihren Büchern «Freiheit statt Kapitalismus» und «Reichtum ohne Gier».
Indessen setzt sich Nico Popp auch in diesem Teil seines Artikels mit den zitierten Ausführungen von Sahra Wagenknecht überhaupt nicht auseinander. Vielmehr beschränkt er sich auf die Behauptung, wer so rede, wolle mit dem Eigentum, der Warenproduktion und dem Staat nicht brechen, sondern nur die verkehrte Ideologie über menschenfreundliche «Bändigung und Regulierung» der kapitalistischen Marktwirtschaft anbieten.
Als Argumentation gegen Sahra Wagenknechts Aussagen ist das äusserst dürftig. Unbestreitbare Tatsache ist doch, dass sich das sowjetische Modell einer zentral staatlich gelenkten Planwirtschaft, das von der DDR und den anderen sozialistischen Staaten weitgehend übernommen worden ist, im als Wirtschaftskrieg geführten ökonomischen Wettbewerb mit den höchstentwickelten kapitalistischen Staaten als in der Entwicklung der Produktivität und Innovationskraft der Volkswirtschaft unterlegen erwiesen hat. Und das war der Hauptgrund für das Scheitern der Sowjetunion und der mit ihr verbündeten sozialistischen Länder im Systemwettbewerb mit den stärksten kapitalistischen Staaten.
Vielleicht mit Ausnahme von Erich Honecker haben nach dem Untergang der DDR und der Sowjetunion alle führenden SED-Genossen (z.B. Egon Krenz, Willi Stoph, Gerhard Schürer, Harry Nick, Christa Luft) eingesehen und erkannt, dass man, falls sich eine zweite historische Chance zum Aufbau einer sozialistischen Gesellschafts- und Wirtschaftsordnung ergibt, vieles anders wird machen müssen. Eine zentral staatlich gelenkte Planwirtschaft nach sowjetischem Modell wird es nicht mehr geben. Es wird mehr Raum für private Initiative geben, mehr Marktwirtschaft, mehr Leistungsprinzip, mehr Eigenverantwortung der Wirtschaftssubjekte, mehr Mitbestimmung der Werktätigen.
Heute bestreitet kaum jemand mehr, dass die in den sechziger Jahren erfolgte Verstaatlichung der in der DDR noch existierenden Privatbetriebe ein schwerwiegender Fehler gewesen ist. Gerhard Schürer (von 1965 bis 1989 Vorsitzender der Staatlichen Plankommission und Mitglied des Politbüros des ZK der SED), dem man kaum vorwerfen kann, er sei ein Sozialdemokrat gewesen, hat in seinem Buch «Gewagt und Verloren» zutreffend festgestellt: «Nicht weil der Sozialismus seine Entwicklung plante, sondern die vollständige bzw. fast vollständige Verstaatlichung des Eigentums und die Verwaltung durch eine für die Menschen nicht fassbare imaginäre Macht, die sich nicht durch freie Wahlen in ihrer Legitimation bestätigen liess, war der Konstruktionsfehler des Systems.» (S. 326/27)
Und mit Bezug auf die Sozialistische Republik Vietnam schreibt er: «Trotz dieser Politik der Öffnung für das ausländische Kapital hat Vietnam nichts von seiner staatlichen Souveränität aufgegeben, was beweist, dass eine kommunistische Staatsmacht durchaus in der Lage ist, die Marktwirtschaft in ihrer Entwicklung mit kluger Hand zu führen. Das Staatliche Komitee für Investitionen und Kooperationen, das die ausländischen Investitionen auf ihre Zweckmässigkeit überprüft, wird von Dau Ngoc Xuan, dem früheren Planungschef und Vertreter Vietnams im RGW, geleitet.»(S. 328)
Nicht diejenigen, die aus dem letztlichen Scheitern des sowjetischen Sozialismusversuchs keine Lehren ziehen wollen, sondern diejenigen, welche in der Vergangenheit gemachte Fehler, die das Scheitern des realen Sozialismus zur Folge hatten, vermeiden wollen, sind die Revolutionäre, welche die Arbeiterklasse für die Schaffung einer neuen sozialistischen Gesellschaft gewinnen können. Zu diesen echten Revolutionären gehört auch Sahra Wagenknecht.
Die sozialistische Revolution steht in Deutschland derzeit nicht auf der Tagesordnung. Was möglich ist, sind Reformen, die in der Tendenz darauf gerichtet sind, die Macht des Monopolkapitals einzudämmen und die Hegemonie der USA und ihrer Verbündeten zu brechen.
Was Sahra Wagenknecht von den Sozialdemokraten unterscheidet, ist ihre Haltung in der internationalen Politik. Sie ist nicht für ein strategisches Bündnis Deutschlands mit den USA, sondern steht auf der Seite der antiimperialistischen Kräfte, was sich in ihrer Haltung zu Kuba, zum Syrien-Konflikt, zur Politik gegenüber dem Iran, zur Politik des Staates Israel gegenüber den Palästinensern, zu Venezuela, zu den Sanktionen gegen Russland und zur Volksrepublik China zeigt. Das sind die Fragen, welche internationalistische Sozialisten von prowestlichen Sozialdemokraten unterscheiden.